OBSERVATIONEN DURCH SOZIALVERSICHERUNGEN – ES FEHLEN DIE GESETZLICHEN GRUNDLAGEN

lic. iur. Judith Rhein, Rechtsanwältin, und MLaw Matthias Meier

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Seit einigen Jahren setzen Sozialversicherungen, namentlich die Unfallversicherung und die Invalidenversicherung, Detektive und heimliche Videoüberwachungen ein, wenn sie Zweifel an der Anspruchsberechtigung von Versicherten haben. Erhärtet sich der Verdacht des Betrugs, wird die entsprechende Rente gekürzt oder eingestellt und die bezogenen Leistungen werden allenfalls zurückgefordert. Die Observation von Versicherten stellt allerdings einen bisweilen schweren Eingriff in deren Privatsphäre dar, der gesetzlich nur rudimentär geregelt ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kommt nun in einem neuen Entscheid zum Schluss, dass für die Überwachung keine ausreichende Gesetzesgrundlage besteht. Der Fall dürfte weitreichende Folgen für die Observierungspraxis der Versicherungen haben und eine Gesetzesrevision unumgänglich machen.

I. DER ENTSCHEID 

Der Fall ist bereits über 20 Jahre alt: Im Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) ging es um eine Frau, die im Jahr 1995 als Fussgängerin von einem Motorrad angefahren wurde und sich hierbei Verletzungen am Kopf zuzog. Nachdem die Unfallversicherung zunächst Leistungen an die Versicherte ausgerichtet hatte, wollte sie diese später schrittweise reduzieren. Sie nahm an, dass sich die Kopf- und Nackenschmerzen über die Jahre abgeschwächt hätten und die Ausübung des früheren Berufes (Coiffeuse) für die Versicherte wieder zumutbar sei. Obwohl das Zürcher Sozialversicherungsgericht der Versicherten Recht gab, zweifelte die Unfallversicherung weiterhin an den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Frau. Die frühere Coiffeuse widersetzte sich jedoch einer neuerlichen Untersuchung. 

Infolgedessen setzte die Unfallversicherung an vier Tagen Detektive ein. Die bei der Observierung entstandenen Foto- und Videoaufnahmen zeigten die angeblich arbeitsunfähige Frau dabei, wie sie mit dem Hund spazieren ging, über lange Distanzen Auto fuhr, problemlos mit Einkaufstaschen hantierte und dabei die Arme über den Kopf hob, was ihr laut einem medizinischen Gutachten gar nicht möglich sein sollte. Die Unfallversicherung kürzte aufgrund der Aufnahmen die Leistungen an die Versicherte. Die dagegen erhobene Beschwerde ans Bundesgericht blieb erfolglos. Das höchste Gericht bezeichnete die Observation als rechtmässig, zumal sie sich auf den öffentlichen Raum beschränkt habe. Der Einwand der Beschwerdeführerin, wonach die Überwachung einen gesetzlich nur unzureichend geregelten und damit rechtswidrigen Eingriff in ihre Privatsphäre dargestellt habe, die Aufnahmen demnach nicht verwertbar seien, wurde nicht erhört. 

Der EGMR hiess nun die Beschwerde der Versicherten gegen diesen Entscheid gut. Er stellte fest, dass die Frau durch die systematische Überwachung in ihrem Recht auf Privatsphäre verletzt worden sei. Die gesetzliche Grundlage für diesen schweren Eingriff sei zu unbestimmt. Es sei unter anderem nicht klar, wann und wie lange die Überwachung habe durchgeführt werden dürfen und wie mit dem gesammelten Material umzugehen sei. Die Schweiz wurde verpflichtet, der Frau EUR 8‘000 Genugtuung und EUR 15‘000 für ihre Auslagen zu bezahlen.

II. RECHT AUF PRIVATLEBEN/PRIVATSPHÄRE

Gemäss Art. 10 und 13 der Bundesverfassung (BV) hat jedermann Anspruch auf Persönlichkeitsentfaltung, Privatsphäre und Datenschutz. Diese Rechte dürfen nur eingeschränkt werden, wenn hierfür eine gesetzlich genügend bestimmte Grundlage besteht, der Eingriff im öffentlichen Interesse liegt und dieser zudem verhältnismässig ist (Art. 36 BV). Das bedeutet unter anderem, dass der Eingriff nicht weiter gehen darf, als es der Zweck der Massnahmen rechtfertigt.

Foto- und Videoaufnahmen von Privatpersonen stellen klarerweise einen Eingriff in diese von der Bundesverfassung geschützten Grundrechte dar. Entsprechend ist eine genügend bestimmte Rechtsgrundlage für die Observationen erforderlich. Je schwerer der Eingriff in die Privatsphäre ist, desto klarer muss die Gesetzesvorschrift sein. Auch ist bei schweren Eingriffen in der Regel eine Grundlage im Gesetz selbst vonnöten (und nicht nur in einer von der Exekutive erlassenen Verordnung). Durch die rechtliche Grundlage soll für die Versicherten vorsehbar sein, inwieweit bei Überwachungsmassnahmen überhaupt in ihre Privatsphäre eingriffen werden kann. Bezüglich Observationen bedeutet das, dass ein Eingriff namentlich je nach Ort und Zeit der Aufnahmen verschieden intensiv ist. So gehen beispielsweise Observationen im öffentlichen Raum weniger weit als auf Privatgrund (Garten, Garageplatz, Balkon) und gar in Privaträumen (Wohnung). 

Das öffentliche Interesse besteht insbesondere im Schutz der Versichertengemeinschaft vor dem Missbrauch durch Bezüger von Sozialversicherungsleistungen. Das Verhältnismässigkeitsprinzip stellt regelmässig strenge Anforderungen an den Anfangsverdacht. Es darf also nicht jeder beliebige Versicherte observiert werden – die Versicherung braucht konkrete Anhaltspunkte, dass ein Missbrauch vorliegen könnte. Auch dürfen die Überwachungen zeitlich (höchstens ein paar Tage), örtlich (in der Regel nur in der Öffentlichkeit) und persönlich (keine Aufnahmen von nicht beteiligten Dritten) nicht weiter gehen, als dies erforderlich ist. 

Der EGMR hat nun ausgeführt – anders als das Bundesgericht –, dass die gesetzlichen Grundlagen aufgrund der intensiven Observationen der Frau durch die Unfallversicherung zu unbestimmt seien (Artikel 28 und 43 des ATSG). Überwachungen durch von Unfallversicherungen beauftragte Privatdetektive seien deshalb nicht mehr zulässig, bis eine hinreichende gesetzliche Grundlage geschaffen worden sei. Entsprechende Anpassungen des ATSG waren bereits einmal geplant, wurden aber vom Bundesparlament verworfen, weil das Bundesgericht die Überwachung von Versicherten schon drei Mal als gesetzlich genügend abgestützt bezeichnet hatte. Auch die Zulässigkeit der Überwachung durch die Invalidenversicherung ist vor dem Hintergrund dieses Entscheids fragwürdig. Zwar ist der Einsatz von Überwachungsmitteln gesetzlich geregelt, die entsprechende Bestimmung (Art. 59 Abs. 5 IVG) jedoch ebenfalls unpräzis („Zur Bekämpfung des ungerechtfertigten Leistungsbezugs können die IV-Stellen Spezialisten beiziehen“). Eine Verdeutlichung der gesetzlichen Grundlagen ist wohl auch hier nötig. 

III. AUSWIRKUNGEN AUF DIE PRAXIS 

Das Urteil des EGMR dürfte weitreichende Konsequenzen haben. So ist kaum vorstellbar, dass Unfallversicherungen weiterhin Privatdetektive einsetzen dürfen, welche Versicherten mit Foto- und Videoaufnahmen überwachen – selbst wenn sie begründeten Verdacht auf einen Betrug haben. Anderenfalls ist wohl mit einer Beschwerdeflut zu rechnen. Die Suva hat bereits auf den Entscheid reagiert und setzt gemäss eigenen Angaben vorläufig keine Detektive mehr gegen mutmassliche Versicherungsbetrüger ein. Um Betrügern auf die Schliche zu kommen, können Versicherungen jedoch auch andere Mittel einsetzen (Arztuntersuchungen anordnen, Abklärungen vor Ort machen oder Zeugen befragen). 

Auch die Invalidenversicherung dürfte gut beraten sein, die gängige Überwachungspraxis zu prüfen und allenfalls vorübergehend einzustellen. Am Zug ist nun das Bundesparlament: Will es den Versicherungen den Beizug von Privatdetektiven weiterhin ermöglichen, wird es wohl um die Anpassung der Gesetze im Sozialversicherungsbereich nicht herumkommen.

IV. FAZIT 

Eingriffe in die Privatsphäre bedürfen stets einer gesetzlich genügend bestimmten Grundlage, müssen im öffentlichen Interesse und verhältnismässig sein. Das Bundesgericht stützte trotz dürftiger gesetzlicher Grundlagen die Observationen der Sozialversicherungen und stellte fest, dass Videoüberwachungen von Versicherten grundsätzlich zulässig sind. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied nun in einem über 20 Jahre dauernden Fall, dass die gesetzlichen Bestimmungen ungenügend sind. Entsprechend müssten die Unfallversicherungen und allenfalls auch die Invalidenversicherung vorläufig wohl auf Überwachungen verzichten, bis das Parlament rechtsgenügende Grundlagen für Observationen geschaffen hat.

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21. November 2016 / lic. iur. Judith Rhein, Rechtsanwältin, und MLaw Matthias Meier