ZULÄSSIGKEIT VON STICHENTSCHEIDEN IN DER AKTIENGESELLSCHAFT
lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin
Eine Pattsituation im Verwaltungsrat oder in der Generalversammlung kann für eine Gesellschaft schwerwiegende Folgen haben und im Extremfall sogar zur Lähmung der Gesellschaft führen. Am häufigsten tritt diese Situation wohl in paritätischen Zweipersonen-Gesellschaften auf, in welchen sich sowohl das Verwaltungsratsgremium als auch die Generalversammlung aus lediglich zwei Personen zusammensetzt. Aber auch in Gesellschaften mit grösserem Aktionariat mit Stamm- und Stimmrechtsaktionären kann sich eine Blockade bilden, nämlich dann, wenn eine Beschlussfassung ein qualifiziertes Quorum erfordert, dieses aufgrund der fehlenden Kapitalmehrheit der Stimmrechtsaktionäre aber nicht zustande kommt. Gerade weil die Folgen einer solchen Blockade einschneidend sein können, besteht häufig das Bedürfnis, mittels statutarischem Stichentscheid – sowohl im Verwaltungsrat als auch in der Generalversammlung – für Abhilfe zu sorgen. Vorliegender Artikel befasst sich mit der Gültigkeit solcher Stichentscheide und sucht nach möglichen Alternativen
I. EINLEITUNG
Beschlüsse und Wahlen im Verwaltungsrat (VR) und in der Generalversammlung (GV) erfordern die Mehrheit der abgegebenen (im VR) bzw. der vertretenen (GV) Stimmen. Der Unterschied hat insbesondere zur Folge, dass Stimmenthaltungen in der GV als Nein-Stimmen gewertet werden, wobei sie im VR gar nicht erst zur Stimmenbasis dazuzählen. Für die Abstimmung im VR sieht das Obligationenrecht im Fall eines Patts (d.h. bei gleich vielen abgegebenen JA- wie auch NEIN-Stimmen) den Stichentscheid des Vorsitzenden (in der Regel des VR-Präsidenten) vor. Dies gilt zumindest dann, wenn die Statuten nichts Gegenteiliges regeln. Für die Abstimmung in der GV fehlt eine entsprechende Gesetzesbestimmung. Die Lehrmeinungen sind sich nicht einig, ob dies ein sog. qualifiziertes Schweigen des Gesetzes ist und ein Beschluss eben mehr als nur die Hälfte der Stimmen erfordert und mit nur gerade 50% somit ein NEIN beschlossen ist, oder ob in einem solchen Fall eine Patt-Situation zu erblicken ist, welche deshalb teilweise auch als Beschlussunfähigkeit der Gesellschaft bezeichnet wird. Bei Aktiengesellschaften mit Stimmrechtsaktien, d.h. mit Aktien, welche im Verhältnis zu ihrem Nennwertanteil eine unverhältnismässig hohe Stimmkraft haben, wodurch eine kleine Gruppe Aktionäre die Mehrheit der Aktienstimmen ausüben kann, obwohl sie für den Erwerb dieser (Stimmrechts-)Aktien weniger Kapital einsetzen mussten als die Stammaktionäre, kann sich eine ähnliche Situation ergeben. Dies dann, wenn für einen Beschluss ein qualifiziertes Quorum verlangt wird, das nur zustande kommt, wenn 2/3 der Stimmen für den Antrag stimmen, welche gleichzeitig auch mehr als 50% der Aktiennennwerte auf sich vereinigen. Es kann also vorkommen, dass ein Beschluss mit qualifiziertem Quorum deshalb kontinuierlich nicht gefasst werden kann, weil die Stimmrechts-Aktionäre die dafür erforderliche Kapitalmehrheit von mehr als 50% der Aktiennennwerte nicht aufbringen.
II. ZULÄSSIGKEIT VON STICHENTSCHEIDEN UND LÖSUNGSANSATZ
a) In der GV von Zweipersonen-Gesellschaften
Wie bereits einleitend erwähnt, stellt sich in Gesellschaften, deren Aktionariat aus lediglich zwei Aktionären mit jeweils 50% der Aktien besteht, eine Patt-Situation besonders häufig dar. In solchen Gesellschaften kann es vorkommen, dass bei Uneinigkeit der beiden Aktionäre in der Generalversammlung kein Beschluss mehr gefasst werden kann bzw. eben nur ablehnende Beschlüsse gefasst werden. Dies kann in extremis zur Folge haben, dass weder der Jahresabschluss genehmigt wird, noch der Verwaltungsrat oder auch eine Revisionsstelle gewählt werden kann. Da es sich beim Verwaltungsrat immer (und bei der Revisionsstelle teilweise) um ein notwendiges Organ der Aktiengesellschaft handelt, leider die Gesellschaft spätestens nach Ablauf der Amtsperiode des letzten Verwaltungsrates an einem Organisationsmangel. Fraglich ist nun, wie einem solchen Fall entgegnet werden soll und kann.
In Frage kommt einerseits die Möglichkeit eines statutarisch verankerten Stichentscheides des Verwaltungsratspräsidenten. Die Zulässigkeit einer solchen Regelung wurde vom Bundesgericht in einem Entscheid aus dem Jahr 2017 mit Verweis auf einen Entscheid aus dem Jahr 1969, der sich indes mit der Frage des Stichentscheides bei Erfordernis des relativen Mehrs befasste, offengelassen. Dem Grundsatz nach wurde die Zulässigkeit damit höchstrichterlich zumindest (noch) nicht verneint. Vorbehalten bleibt ein Stichentscheid in Gesellschaften mit Stimmrechtsaktien, wo sich der Patt aufgrund einer fehlenden Kapitalmehrheit der Stimmrechtsaktionäre ergibt (vgl. unten, b)). Grundsätzlich ist es in Zweipersonen-Gesellschaften ohne Stimmrechtsaktionäre somit erlaubt, im Fall eines Patts (50:50) den Stichentscheid des Verwaltungsratspräsidenten vorzusehen. Und zwar auch dann, wenn dieser selbst gar nicht Aktionär ist. Die Legitimation erhält der Verwaltungsrat dadurch, dass er einmal selbst von der Generalversammlung und somit von der Mehrheit der Aktionäre gewählt wurde. Freilich bleibt diese Argumentation nicht ohne Kritik. Insbesondere wird teilweise auch die Auffassung vertreten, dass das Aktienrecht (im Unterschied zum GmbH-Recht, das einen Stichentscheid des Vorsitzenden eben gerade explizit vorsieht) im Fall eines 50:50-Patts eben einen NEIN-Entscheid erblickt und nicht einen Nicht-Entscheid. Andernfalls würde das Aktienrecht sowohl für einen JA- wie auch für einen NEIN-Beschluss eine Mehrheit verlangen, was aber nicht der Fall sei. Daher wird teilweise die Ansicht vertreten, dass mit einem Stichentscheid aus einem NEIN-Beschluss ein JA-Beschluss gemacht und somit letztlich ein Minderheitsentscheid zu einem Mehrheitsentscheid verkehrt würde.
Auch wenn dieser Dogmatik dem Grundsatz nach zuzustimmen ist, rechtfertigt es sich meines Erachtens, für den Fall, dass ein Aktionär in Entscheidungen, die für das wirtschaftliche Fortkommen der Gesellschaft entscheidend sind, wiederholt aufgrund der grundsätzlichen und konstanten Abwehrhaltung des Mitaktionärs mit 50:50 unterliegt, eine Abhilfemassnahme zuzulassen. Dies muss nicht zwingend der Stichentscheid des Verwaltungsratspräsidenten sein, auch wenn das wohl häufig die einfachste und schnellste Lösung bringt. In Frage käme auch ein Losentscheid oder der Entscheid durch einen unabhängigen externen Experten. Bei grösseren Gesellschaften wäre auch die Entscheidung durch eine Management-Delegation möglich und gegebenenfalls sinnvoll. Eine weitere, m.E. sinnvollste, Möglichkeit besteht darin, in einem Aktionärbindungsvertrag einen eigentlichen Eskalationsmechanismus vorzusehen, der in mehreren Etappen an eine Entscheidung heranführt, bspw. indem die Parteien ein Schiedsgericht wählen, deren Entscheidung sie sich unterwerfen. Für den Fall eines konstanten Patts in jeglichen Entscheidungen könnte als letzte Eskalationsstufe dann auch die Auflösung der Gesellschaft, gegebenenfalls eine Teilliquidation durch Kapitalherabsetzung (sofern das Aktienkapital dies zulässt) oder die Anordnung einer Versteigerung der Aktien o.ä. vorgesehen werden. Auch wenn sich diese Folgen bei Gründung kein Aktionär wünscht, kann eine erzwungene Liquidation oder der erzwungene Auskauf eines Aktionärs immer noch die bessere Lösung darstellen, als dass ein Aktionär in der Gesellschaft gefangen bleibt, gegebenenfalls durch die Weigerung von Dividendenausschüttungen ausgehungert oder die Gesellschaft ausgeblutet wird.
b) In der GV von Gesellschaften mit Stimmrechtsaktien
Bei Gesellschaften mit Stimmrechtsaktien stellt sich die Situation etwas anders dar. Hier wurde vom Bundesgericht im besagten Entscheid aus dem Jahr 2017 ausdrücklich festgehalten, dass der Stichentscheid des Verwaltungsratspräsidenten zumindest in jenen Entscheidungen, für welche das Gesetz oder die Statuten das qualifizierte Mehr verlangen (d.h. 2/3 der Stimmen sowie mind. 50% der Kapitalanteile), unzulässig ist. Der Grund liegt hier vornehmlich darin, dass der Verwaltungsrat lediglich mit dem absoluten Mehr gewählt wird, weshalb die Stimmrechtsaktionäre bei dieser Entscheidung von ihrer erhöhten Stimmkraft profitieren können. Somit soll es nicht sein, dass eine Person, die lediglich mit dem absoluten Mehr gewählt wurde, letztlich eine Entscheidung trifft, für welche das qualifizierte Mehr und somit eben insbesondere die Kapitalmehrheit erforderlich ist. Die Entscheidungen, welche das qualifizierte Mehr erfordern, sind in Art. 704 Abs. 1 Ziff. 1 bis Ziff. 8 OR genannt. Die Statuten können diesen Katalog beliebig erweitern. Die Vorkehrung eines Abhilfemechanismus im Fall eines andauernden Patts zwischen Stimmrechtsaktionären und Stammaktionären ist aber auch bei solchen Konstellationen nicht grundsätzlich untersagt. Ausgeschlossen ist lediglich der Stichentscheid einer Person, die nicht ebenfalls mit der Kapitalmehrheit gewählt wurde. Damit steht insbesondere der Wahl eines sog. Eskalationsmechanismus mit mehreren Etappen nichts entgegen.
c) Im Verwaltungsrat
Im Verwaltungsrat ist der Stichentscheid des Präsidenten von Gesetzes wegen vorgesehen. Somit stellen sich die oben behandelten Problemfelder der gesetzlichen Zulässigkeit in diesem Gremium nicht. Ob der Stichentscheid des Präsidenten letztlich auch sinnvoll ist, kann hinterfragt werden. Dies insbesondere dann, wenn sich der Verwaltungsrat in einer Zweipersonen-Gesellschaft ebenfalls aus den beiden Aktionären zusammensetzt. Auch im Verwaltungsrat ist es meines Erachtens daher angezeigt, einen Eskalationsmechanismus vorzusehen, der die Entscheidungsfindung im Fall eines Patts begünstigt.
III. FAZIT
Eine Pattsituation, welche trotz strenger Rechtsdogmatik in der vorliegenden Abhandlung bereits darin erblick wird, dass eine positive Entscheidung aufgrund eines kontinuierlichen NEIN-Beschlusses eines Aktionärs (oder mehreren Aktionären) mit 50% der Stimmen bzw., in Gesellschaften mit Stimmrechtsaktien, mit lediglich 50% der Kapitalmehrheit nicht gefasst werden kann, kann Gesellschaften langfristig in ihrem wirtschaftlichen Fortkommen behindern und im Extremfall sogar lähmen. Dies kann zulasten der Gesellschaft oder auch zulasten einzelner Gesellschafter sein (bspw. durch Aushungern eines einzelnen Gesellschafters). Der Stichentscheid des Verwaltungsratspräsidenten bildete hier sicher die einfachste und schnellste Lösung. Allerdings ist die Zulässigkeit einer solchen Massnahme aufgrund der aktuellen Rechtsprechung unklar. Zwar wurde ein Entscheid vom Bundesgericht vor nicht allzu langer Zeit (in Bezug auf Gesellschaften mit Stammaktien) offengelassen und ein Stichentscheid durch den Verwaltungsratspräsidenten nur in Beschlussfassungen, die dem qualifizierten Mehr unterliegen, untersagt. Nichtsdestotrotz wird hier die Ansicht vertreten, dass der Stichentscheid einer Partei in einer Zweipersonen-Gesellschaft ohnehin nicht die optimale Lösung ist, da er derjenigen Person, welche den Stichentscheid ausüben kann, faktisch die alleinige Herrschaft einräumt. Vorzuziehen ist die Vorkehrung eines eigentlichen Eskalationsmechanismus in einem entsprechenden Aktionärbindungsvertrag, der in mehreren Etappen an die Entscheidungsfindung und aus dem Patt herausführt.
11. März 2020 / lic. iur. Patricia Geissmann
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