ALTERNIERENDE OBHUT MIT HÄLFTIGEN BETREUUNGSANTEILEN ALS NEUER REGELFALL
lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin
Mit den Urteilen vom 19. Oktober 2020 (5A_367/2020) und vom 13. November 2020 (5A_629/2019) bestätigt und präzisiert das Bundesgericht seine Rechtsprechung zur alternierenden Obhut. Gemäss Bundesgericht darf auf die Anordnung mit hälftigen Betreuungsanteilen nur verzichtet werden, wenn begründete und konkrete Gründe im Hinblick auf das Kindeswohl dagegen sprechen. Das Bundesgericht verdeutlicht damit, dass das Betreuungsmodell der alternierenden Obhut künftig zur Regel werden soll und damit die alleinige Obhut mit Besuchsrecht in den Hintergrund rückt.
.
I. GRUNDSÄTZE ZUR ERMITTLUNG DER BETREUUNGSREGELUNG
Sofern sich Eltern in Bezug auf die Betreuung ihrer gemeinsamen Kinder nicht einig sind, ist nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung im Einzelfall zu entscheiden, welche Betreuungsregelung anzuordnen ist. Unterschieden wird zwischen den Betreuungsmodellen der alleinigen und der alternierenden Obhut. Bei der Anordnung einer alleinigen Obhut werden die Kinder getrennt lebender Eltern grundsätzlich von einem Elternteil betreut, wobei der andere Elternteil Anspruch auf ein Besuchsrecht hat. Bei der alternierenden Obhut handelt es sich hingegen um eine Betreuungsregelung, bei welcher die Kinder ungefähr zu gleichen Teilen (Mindestanteil bei einem Elternteil nach Bundesgericht: 30%) bei beiden Eltern leben und betreut werden. Die Regelung eines Besuchsrechts wird damit überflüssig.
Entscheidendes Kriterium für die Regelung der Betreuung ist stets das Kindeswohl. Das angeordnete Betreuungsmodell, sei es die alternierende oder die alleinige Obhut, muss zwingend mit dem Kindeswohl vereinbar sein. Das Bundesgericht hat zur Beurteilung der Frage, ob eine alternierende Obhut mit dem Kindeswohl vereinbar ist, verschiedene Kriterien entwickelt, die es vor der Anordnung zu prüfen gibt. Voraussetzung für die Anordnung einer alternierenden Obhut ist dabei stets die Erziehungsfähigkeit beider Eltern. Weiter erfordert eine alternierende Obhut von den Eltern organisatorische Massnahmen und gegenseitige Information. Die praktische Umsetzung einer alternierenden Betreuung setzt voraus, dass die Eltern fähig und bereit sind, in Kinderbelangen miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass eine fehlende Kooperationsbereitschaft der Eltern gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht leichthin angenommen werden darf. Allein aus dem Umstand, dass sich beispielsweise ein Elternteil der alternierenden Obhut widersetzt, kann gemäss Bundesgericht nicht ohne weiteres auf eine fehlende Kooperationsfähigkeit der Eltern geschlossen werden, welche einer alternierenden Obhut im Wege steht.
Zu berücksichtigen ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ferner die geographische Situation, namentlich die Distanz zwischen den Wohnungen der beiden Eltern, und die Stabilität, welche die Weiterführung der bisherigen Regelung für das Kind gegebenenfalls mit sich bringt. Eine alternierende Obhut ist demnach eher anzuordnen, wenn die Eltern das Kind schon vor der Trennung abwechselnd betreuten.
Weitere Gesichtspunkte bei der Prüfung der Anordnung einer alternierenden Obhut sind die Möglichkeit der Eltern, das noch kleine Kind persönlich zu betreuen bzw. fremd betreuen zu lassen (wobei das Bundesgericht die Eigen- und Fremdbetreuung eines Kindes grundsätzlich als gleichwertig betrachtet), das Alter des Kindes, und seine Einbettung in ein weiteres soziales Umfeld. Auch dem Wunsch des Kindes ist Beachtung zu schenken. Diese weiteren Beurteilungskriterien sind oft voneinander abhängig und je nach den konkreten Umständen des Einzelfalls für den gerichtlichen Entscheid von unterschiedlicher Bedeutung.
.
II. NEUE RECHTSPRECHUNG DES BUNDESGERICHTS
Mit Urteil vom 19. Oktober 2020 (5A_367/20) hielt das Bundesgericht an seiner bisherigen Rechtsprechung, dass die konkreten Umstände im Einzelfall für die Anordnung einer alternierenden Obhut entscheidend seien, fest. Überlegungen allgemeiner Natur, wie bspw. der Umstand, dass die alternierende Betreuung insbesondere für Säuglinge und Kleinkinder bis fünf Jahre ein Entwicklungsrisiko darstellen könne, dürften nicht dazu führen, im Einzelfall keine alternierende Obhut anzuordnen. Gemäss Bundesgericht waren die Voraussetzungen einer alternierenden Obhut vorliegend erfüllt und es wurde festgehalten, die Vorinstanz habe ohne sachlich haltbare Gründe von der Anordnung einer alternierenden Obhut abgesehen. Im Ergebnis erachtete das Bundesgericht den Ermessensentscheid der Vorinstanz deshalb als willkürlich.
Im Urteil des Bundesgerichts 5A_629/2019 vom 13. November 2020 hatte sich das Bundesgericht primär mit der Frage der Auswirkungen eines Elternkonflikts auf die Betreuungsregelung zu befassen. Das Bundesgericht hielt diesbezüglich fest, dass eine alternierende Obhut nur dann nicht in Frage käme, wenn der Elternkonflikt zwischen den Eltern derart ausgeprägt und umfassend sei, dass keine Kommunikation und Einigung über die Kinderbelange erfolgen könne und damit eine alternierende Obhut mit hälftigen Betreuungsanteilen dem Kindeswohl schaden würde. Weiter führte das Bundesgericht aus, dass der Umstand, dass die Parteien nach der Trennung während mindestens fünf Monaten die hälftige Betreuung praktiziert hätten, die zuvor gelebte klassische Rollenteilung relativiere. Fünf Monate würden für kleine Kinder eine verhältnismässig lange Zeitspanne bedeuten, in welcher sie sich an eine neue Situation gewöhnen könnten. Das Bundesgericht kam somit zum Schluss, dass die Vorinstanz zu Unrecht davon ausgegangen war, dass die Voraussetzungen für eine alternierende Obhut nicht erfüllt seien. Die Beschwerde des Vaters betreffend Anordnung der alternierenden Obhut wurde gutgeheissen und die Sache an die Vorinstanz zur neuen Entscheidung zurückgewiesen.
Das Bundesgericht präzisiert mit diesen beiden neuen Urteilen seine Rechtsprechung zur alternierenden Obhut. Es macht die alternierende Obhut zum Ausgangspunkt in Betreuungsfragen, auch wenn die Eltern sich in dieser Sache uneinig sind. Bei der Frage, welche Betreuungsregelung anzuordnen ist, ist gemäss Bundesgericht in einem ersten Schritt zu prüfen, ob eine alternierende Obhut mit dem Kindeswohl vereinbar ist oder nicht. Anhand des genannten Kriterienkatalogs ist dann zu prüfen, ob im Einzelfall konkrete Gründe gegen eine alternierende Obhut sprechen. Ist dies der Fall, ist die alleinige Obhut aber nur dann anzuordnen, wenn dies zu einem für das Kind günstigeren Ergebnis führt.
.
III. FAZIT
Mit den beiden Urteilen 5A_367/2020 vom 19. Oktober 2020 und 5A_629/2019 vom 13. November 2020 verdeutlicht das Bundesgericht, dass einer alternierenden Obhut gegenüber einer alleinigen Obhut grundsätzlich der Vorzug zu gewähren ist. Damit erhebt das Bundesgericht die alternierende Obhut zum Regelfall. Eine alleinige Obhut soll nur noch angeordnet werden, wenn konkrete Gründe gegen die alternierende Obhut sprechen und zugleich die alleinige Obhut dem Kindeswohl besser entspricht. Das Bundesgericht weicht somit auch mit Blick auf das Betreuungsmodell getrennt lebender Eltern immer mehr von der klassischen Rollenverteilung ab und passt seine Rechtsprechung der gesellschaftlichen Entwicklung an. Oberste Richtschnur bleibt jedoch das Kindeswohl. Es wird deshalb auch in Zukunft stets im Einzelfall zu prüfen sein, welches Betreuungsmodell mit dem Kindeswohl am besten vereinbar ist.
31. März 2021 / lic. iur. Melanie Schmidt
Sorry, the comment form is closed at this time.