DAS VERSAGEN DER LINEAREN ARBEITSZEITERFASSUNG IN EIGENTLICHEN TEILZEITARBEITSVERHÄLTNISSEN: DER KRANKHEITSFALL

Dr. iur. Stephan Fröhlich, Rechtsanwalt

Die lineare Arbeitszeiterfassung führt in vielen Unternehmen zu Fragen,
Unklarheiten und, nicht zuletzt, zur Unzufriedenheit der Arbeitnehmerschaft.
Vor diesem Hintergrund wird dieses Zeiterfassungsmodell nachstehend einer
kurzen Überprüfung unterzogen und es wird aufgezeigt, wo für den Arbeitgeber
unseres Erachtens dessen Anwendungsbereich bzw. dessen Grenzen liegen.

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I. DIE AUSGANGSLAGE

Das immer öfter anzutreffende Zeiterfassungsmodell der linearen Arbeitszeiterfassung sieht vor, dass die Zeitgutschrift nicht nach der tatsächlich geleisteten Arbeitsdauer an den vereinbarten Arbeitstagen erfolgt, sondern nach dem auf eine 5-Tagewoche entfallenden täglichen arbeitsvertraglichen Pensum. Konkret heisst dies, dass einem zu 50% beschäftigten Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf die faktische Lage der Arbeitsleistung jeden Tag (ausgehend von einer 42-Stunden-Woche) 4:12 Stunden angerechnet werden. Wo liegt nun das Problem? Der Stein des Anstosses liegt oft dort, wo dasselbe System bei der Erfassung von krankheitsbedingten Absenzen angewandt wird; und zwar wiederum unabhängig davon, wie viel der Arbeitnehmer an diesen bestimmten Tag tatsächlich gearbeitet hätte. Daraus kann sich etwa die Problematik ergeben, dass einem Arbeitnehmer, der in einem 50%-Pensum beschäftigt ist und an einem Tag krankheitsbedingt ausfällt, an dem er ganztags gearbeitet hätte, im Zeiterfassungssystem nur 4:12 Stunden Arbeitszeit angerechnet werden, obschon er an diesem Tag 8:24 Stunden gearbeitet hätte.

II. DIE PFLICHT DES ARBEITGEBERS ZUR ARBEITSZEITERFASSUNG

Untersteht ein Arbeitsverhältnis dem Arbeitsgesetz, so ist
der Arbeitgeber nach Art. 46 ArG i.V.m. Art. 73 ArgV 1 verpflichtet, die
geleistete Arbeitszeit seiner Angestellten zu erfassen und eine entsprechende
Dokumentation für eine bestimmte Zeitdauer aufzubewahren. Verlangt wird vom
Arbeitgeber grundsätzlich eine möglichst genaue und präzise Zeiterfassung, sodass
eine von der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit abweichende Fiktion unseres
Erachtens nur in Ausnahmefälle zur Anwendung kommen darf. Wo mit anderen Worten
ohne weiteres festgestellt werden kann, welche Arbeitszeit auf einen bestimmten
Krankheitstag entfällt, ist diese Arbeitszeit auch gutzuschreiben und nicht
eine davon abweichende fiktive Arbeitszeit. Wie weiter unten aufgezeigt wird,
kann es aber auch einzelne Konstellationen geben, in denen eine solche Fiktion
den bestmöglichen Kompromiss darstellt. Die Unterscheidung ist unseres
Erachtens aufgrund einer differenzierten Betrachtung von eigentlicher bzw.
uneigentlicher Teilzeitarbeit vorzunehmen.

III. LINEAREN ARBEITSZEITERFASSUNG BEI EIGENTLICHER TEILZEITARBEIT

Von«eigentlicher Teilzeitarbeit»spricht man, wenn der reduzierte Einsatz wiederholt aufgrund eines im Voraus festgelegten Arbeitsplans erfolgt,
wobei der Arbeitnehmer nicht notwendigerweise zu denselben Zeiten und
Wochentagen arbeiten muss (vgl. Streiff/von
Kaenel/Rudolf, in: Arbeitsvertrag, 7. Aufl., N 18 zu Art. 319).

Wenn ein Arbeitnehmer in
eigentlicher Teilzeitarbeit krankheitsbedingt für einen ganzen eingeplanten Tag
ausfällt, ist eine Zeitgutschrift von lediglich 4:12 Stunden (aufgrund seines
durchschnittlichen Tagespensums) nach der hier vertretenen Ansicht schwer zu
rechtfertigen. Dies deshalb, weil der Einsatzplan vom Arbeitgeber vorgegeben
wird und deshalb ganz klar ist, dass der Arbeitnehmer an diesem Tag 8:24 Stunden
gearbeitet hätte. Die Fiktion einer durchschnittlichen Tagesarbeitszeit von
4:12 Stunden steht hier im Widerspruch zu den tatsächlichen Gegebenheiten, weil
die Arbeitszeiten vom Arbeitgeber selber festgesetzt wurden und der
Arbeitnehmer davon nicht hätte abweichen dürfen bzw. können, wenn er an dem Tag
gesund gewesen wäre. Weil hier aufgrund des bestehenden Einsatzplanes keine
Zweifel an der für den jeweiligen Tag geschuldeten Arbeitsleistung bzw. der
zeitlichen Lage und Dauer der an dem Tag zu erbringenden Arbeitsleistung
bestehen, lässt sich eine von diesen Arbeitszeiten abweichende Fiktion nur
schwer rechtfertigen.

Würde man die Annahme einer solchen Fiktion erlauben, so würde das auch zur Generierung unverschuldeter Minusstunden führen, welche auf die Krankheit unmittelbar zurückgeführt werden könnten und welche sich früher oder später auch in einer Lohneinbusse niederschlagen würden. Eine Kompensation dieser Minusstunden wäre von vorne herein kaum möglich, weil ja ein vom Arbeitgeber vorgegebener fixer Einsatzplan besteht. Selbst wenn eine Kompensation dieser unverschuldeten Minusstunden ermöglicht würde, so müsste dies durch eine Mehrleistung an Arbeitsstunden geschehen, welche bei Ausbleiben der Krankheit nicht hätten geleistet werden «müssen» oder dann, wenn sie unabhängig davon geleistet worden wären, entschädigungsfähige Überstunden dargestellt hätten. Bei diesem Resultat läuft der Arbeitgeber Gefahr, den Vorgaben von Art. 324a OR nicht gerecht zu werden, wonach dem Arbeitnehmer für eine gewisse Zeit keine Lohneinbusse entstehen darf, wenn er krankheitshalber an der Arbeitsleistung verhindert ist.

IV. SONDERFALL UNEIGENTLICHE TEILZEITARBEIT

Die Frage der Gesetzeskonformität
der linearen Arbeitszeiterfassung stellt sich aber nicht nur in Bezug auf die
eigentliche, sondern auch auf die uneigentliche Teilzeitarbeit. Diese Art von
Teilzeitarbeit wird nicht aufgrund eines im Voraus festgelegten Einsatzplanes,
sondern auf einseitigen Abruf
durch den Arbeitgeber  hin oder zu einem
im Belieben des Arbeitnehmers stehenden Einsatzzeitpunkt geleistet (vgl. Streiff/von Kaenel/Rudolf, in: Arbeitsvertrag,
7. Aufl., N 18 zu Art. 319). Dies bedeutet aber noch nicht unbedingt, dass
der Arbeitnehmer in uneigentlicher Teilzeitarbeit unregelmässig arbeitet und somit,
dass eine genaue Bestimmung der Lage und der Dauer der Arbeitsleistung dem
Arbeitgeber nicht zugemutet werden darf. Es entspricht vielmehr der Lebensart
vieler Arbeitnehmer, regelmässig an bestimmten Tagen der Woche zu arbeiten, um an
den übrigen Tagen einer anderen Beschäftigung nachgehen zu können oder um sich beispielsweise
der Familienbetreuung zu widmen. Wenn es dem Arbeitgeber dementsprechend auch
hier möglich ist, die auf einen bestimmten
Krankheitstag entfallende Arbeitszeit zu eruieren, ergeben sich keine
Unterschiede zu den obigen Ausführungen zur eigentlichen Teilzeitarbeit.

Wird die Arbeitsleistung von einem Arbeitnehmer hingegen tatsächlich
unregelmässig geleistet, so stellt die lineare Arbeitszeiterfassung für den
Arbeitgeber eine grosse Erleichterung dar. Krankheitsfälle linear (ausgehend
von einer durchschnittlichen wöchentlichen Soll-Arbeitszeit) gutzuschreiben,
lässt sich in diesen Fällen unseres Erachtens rechtfertigen. Das, weil aufgrund
der Unregelmässigkeit der Arbeitsleistung im Nachhinein kaum mehr bestimmt (und
nötigenfalls auch kaum je bewiesen) werden kann, wie die Arbeitszeit des
Arbeitnehmers an den jeweiligen Krankheitstagen zu liegen gekommen wäre. Angesichts
der Autonomie des Arbeitnehmers, seine Arbeitszeit selbst festzulegen,
erscheint die Fiktion einer 5-Tagewoche im Teilzeitpensum hier
verhältnismässig. In diesem Fall hält die juristische Lehre aber richtiger
Weise fest, dass der Arbeitgeber auch Mehrstunden in Kauf nehmen muss, die nach
diesem System konsequenter Weise entstehen, wenn der Arbeitnehmer an einem
Krankheitstag tatsächlich nicht gearbeitet hätte. Dieser Fall entsteht, wenn
der Arbeitnehmer seine wöchentliche Sollarbeitszeit zu Beginn der Woche schon
geleistet hat und danach für den Rest der Woche krankheitsbedingt ausfällt.

V. FAZIT

Nach der hier vertretenen Auffassung findet die lineare Arbeitszeiterfassung ihre Grenze in den faktischen Gegebenheiten der Arbeitsleistung. Das Gesetz verpflichtet den Arbeitgeber, die Arbeitszeiten seiner Angestellten möglichst genau und präzis zu erfassen. In dieser Hinsicht darf eine Fiktion nur dann angenommen werden, wo es auch Raum für diese gibt, weil die tatsächliche Lage und Dauer der für einen bestimmten Krankheitstag vorgesehenen Arbeitszeit nicht eruiert werden kann. Den Arbeitgebern wird somit empfohlen, sowohl bei der Abfassung von Einzelverträgen als auch bei der Ausarbeitung von Arbeitszeitreglementen den vorbeschriebenen Gegebenheiten Rechnung zu tragen und die entsprechenden Dokumente im Zweifelsfall einem Fachexperten zur Prüfung zu unterbreiten.


10. März 2020 / Dr. iur. Stephan Fröhlich