DIE GEMEINSAME ELTERLICHE SORGE ALS REGELFALL
lic. iur. Judith Rhein, Rechtsanwältin, und Gabriel Hüni, MLaw
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Am 1. Juli 2014 sind die Änderungen im Sorgerecht in Kraft getreten. Im Zentrum – auch der medialen Öffentlichkeit – stand von vorneweg das gemeinsame Sorgerecht als neuer Regelfall. Diese Regelung führt dazu, dass einerseits alte Begriffe wie die Obhut neue Bedeutungen erlangen, anderseits wurden mit den Betreuungsanteilen auch neue Begriffe geschaffen, die es zu klären gilt. Für Eltern und Rechtspraktiker enthält das Sorgerecht einige Tücken, u.a. bei der Frage, welches Gericht bzw. welche Behörde(n) im konkreten Fall zuständig sind. Auf grosses Interesse ist verständlicherweise auch die Regelung gestossen, wonach bisher nicht sorgeberechtigte Eltern das gemeinsame Sorgerecht beantragen könne. Nachfolgend sollen die wichtigsten Änderungen dargestellt und deren Bedeutung erklärt werden.
I. DIE ZUTEILUNG DES SORGERECHTS
Neu ist die gemeinsame elterliche Sorge der Eltern im schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) nicht mehr nur während der Ehe vorgesehen, sondern als Regelfall bei einer Scheidung oder bei unverheirateten Eltern. Nur wenn es das Kindeswohl verlangt, soll die elterliche Sorge einem Elternteil alleine zugeteilt werden.
A. Unverheiratete Eltern
Bei unverheirateten Eltern entsteht das rechtliche Kindesverhältnis zur Mutter automatisch, das Kindesverhältnis zum Vater in der Regel erst durch seine Anerkennung oder durch ein entsprechendes Gerichtsurteil. Heisst das Gericht in Zukunft eine solche Vaterschaftsklage gut, verfügt es direkt die gemeinsame elterliche Sorge, sofern nicht das Kindeswohl ein alleiniges Sorgerecht der Mutter oder des Vaters verlangt (Art. 298d ZGB). Äussert sich das Gericht in der Vaterschaftsklage nicht zum Sorgerecht oder anerkennt der Vater das Kind freiwillig, können die Eltern das gemeinsame Sorgerecht mit einer gemeinsamen Erklärung beantragen. Entgegen dem alten Recht müssen die unverheirateten Eltern jedoch nicht mehr einen Unterhalts- und Betreuungsvertrag zur Genehmigung vorlegen; es reicht aus, dass die Eltern in der gemeinsamen Erklärung bestätigen, dass sie bereit sind, gemeinsam die Verantwortung für das Kind zu übernehmen und sich über die Obhut und den persönlichen Verkehr oder die Betreuungsanteile sowie über den Unterhaltsbeitrag für das Kind verständigt haben (siehe Art. 298a ZGB). Anerkennt der Vater das Kind freiwillig, kann diese Erklärung mitsamt der Anerkennung an das zuständige Zivilstandsamt richten. Ist die Anerkennung bereits erfolgt, muss die Erklärung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) am Wohnsitz des Kindes gerichtet werden. ImStreitfall können allerdings Probleme auftreten. Weigert sich ein Elternteil, die Erklärung über die gemeinsame Sorge abzugeben, kann der andere Elternteil an die KESB am Wohnsitz des Kindes gelangen, welche in der Folge über das Sorgerecht entscheidet. Sie verfügt auch hier das gemeinsame Sorgerecht, wenn nicht das Kindeswohl eine andere Lösung verlangt. Die KESB entscheidet in einem solchen Streitfall auch gleich über die übrigen strittigen Punkte wie den persönlichen Verkehr oder die Betreuungsanteile. Leider hat der Gesetzgeber der KESB explizit die Kompetenz entzogen, auch gleich über die Unterhaltsansprüche zu entscheiden – dafür ist das Zivilgericht zuständig (Art. 298b Abs. 3 ZGB). Dies führt letztendlich dazu, dass bei unverheirateten Eltern, die sich nicht einigen können, zwei verschiedene Behörden zuständig sind bzw. zwei Verfahren geführt werden müssen, was selbstredend weder zeit- noch kosteneffizient ist.
B. Verheiratete Eltern
Bei verheirateten Eltern galt bereits im alten Recht die gemeinsame elterliche Sorge während der Ehe. Kommt die Trennung und entscheidet das Gericht über die Scheidung oder Eheschutzmassnahmen, soll neu diese gemeinsame elterliche Sorge auch weiterbestehen, es sei denn, das Kindeswohl verlangt eine andere Lösung (z.B. alleiniges Sorgerecht des Vaters, der Mutter oder Bestellung eines Vormundes für das Kind). Die Scheidungseltern trifft hier – im Gegensatz zu den unverheirateten Eltern – das „Glück“, dass das Scheidungsgericht neben der Sorgerechtszuteilung auch die Unterhaltsbeiträge regeln kann.
II. GEMEINSAMES SORGERECHT, OBHUT UND BETREUUNGSANTEILE
Der bisherige Regelfall des alleinigen Sorgerechts ging meist einher mit der rechtlichen Obhut. Die massive Verbreitung des gemeinsamen Sorgerechts bei oftmals getrennt lebenden Eltern wird vermehrt zu Fällen führen, in welchen ein Elternteil zwar das Sorgerecht hat, jedoch das Kind nicht oder nur beschränkt betreut. Dieses Auseinanderfallen von Betreuung und Sorgerecht rückt die Frage ins Zentrum, welche Entscheidungsbefugnisse die Eltern mit alleiniger Betreuung, mit Betreuungsanteilen oder mit Besuchsrecht haben.
A. Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes
Neu beinhaltet die elterliche Sorge auch das Recht, (in beschränktem Mass) über denAufenthaltsort des Kindes bestimmen zu dürfen. Nach altem Recht stand dieses Recht dem Inhaber der Obhut zu. In allen Fällen, wo nach altem Recht die gemeinsame elterliche Sorge verfügt wurde, jedoch ein Elternteil die alleinige Obhut hat, bedeutet dies somit ab dem 1. Juli 2014 einerseits ein neues Mitspracherecht des Sorgeberechtigten ohne Obhut, anderseits verliert die bisherige Obhutsinhaberin das alleinige Bestimmungsrecht über den Aufenthalt des Kindes. Üben die Eltern gemäss Art. 301a Abs. 2 ZGB die elterliche Sorge gemeinsam aus, und will ein Elternteil den Aufenthaltsort des Kindes wechseln, so bedarf dies gemäss Wortlaut des Gesetzes der Zustimmung des andern Elternteils oder der Entscheidung des Gerichts bzw. der Kindesschutzbehörde, wenn der neue Aufenthaltsort im Ausland liegt oder der Wechsel des Aufenthaltsortes erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr durch den andern Elternteil hat. Diese Bestimmung wird jedoch bereits von vielen Seiten kritisiert und die Anwendung ist im Detail noch weitgehend unklar. Das Ziel dieses „Zügel-Artikels“ ist, dass die Eltern vor einem Umzug dessen Auswirkungen auf die elterliche Sorge prüfen und gegebenenfalls die getroffenen Regelungen über die Kinderbelangen (insbes. Betreuungsanteile, persönlicher Verkehr und Unterhalt) anpassen. Keineswegs soll dieser Artikel einem Elternteil ein allgemeines Veto-Recht zum Wohnortswechsel des Ex-Partners geben. Sofern also ein Elternteil geltend macht, der Wohnortswechsel des anderen Elternteils bzw. des Kindes habe erhebliche Auswirkungen auf seine Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr, hat das Gericht bzw. die Behörde die Latte hoch anzusetzen. Eine geringfügige Verlängerung des Reisewegs oder kleinere Mehrkosten genügen hier nicht. Vielmehr sind die Auswirkungen nach einer Lehrmeinung erst erheblich, wenn das bisherige Betreuungskonzept nicht durch ein neues, gleichwertiges ersetzt werden kann, wobei Alter und Gesundheit des Kindes und der Eltern, die Erwerbspensen der Eltern, die räumliche Distanz bzw. die Verkehrswege sowie die Art und Häufigkeit der bisherigen Kontakte zu beachten sind. Bei einem Umzug ins Ausland hingegen muss diese Abwägung nicht vorgenommen werden.
Der Wortlaut des Zügel-Artikels Art. 301a ZGB suggeriert in irreführender Weise, dass ein Umzug mit diesen Auswirkungen ohne vorgängige Erlaubnis des anderen Sorgeberechtigten oder der zuständigen Behörde generell verboten sei. Sicherlich nicht erforderlich ist die Zustimmung, wenn Gefahr im Verzug ist (z.B. Naturgewalten, kriegerische Ereignisse etc.) oder sie rechtsmissbräuchlich vorenthalten wird. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn sich der widersetzende Elternteil entgegen Vereinbarungen oder einem Entscheid nie ernsthaft um das Kind gekümmert hat. In allen anderen Fällen stellt sich die Frage, was die Sanktion bei einem Umzug ohne vorgängige Zustimmung sein soll. Betroffen ist immerhin das Grundrecht der Niederlassungsfreiheit des umziehenden Elternteils, was gewisse Anforderungen an die Zumutbarkeit und die Verhältnismässigkeit der Einschränkungen stellt. Zudem steht das Erfordernis der Zustimmung im Widerspruch zu Art. 175 ZGB, wo die Ehegatten explizit berechtigt werden, den gemeinsamen ehelichen Haushalt aus gewissen Gründen, praktisch jedoch beinahe voraussetzungslos aufzulösen – und dies ohne Zustimmung des andern Ehegatten oder einer Behörde. Unter diesen Umständen ist im Zivilrecht kaum eine sinnvolle Sanktion ersichtlich. Sinnvoll, aber bereits in Art. 301a Abs. 5 ZGB vorgesehen ist, dass die Eltern sich bei einem Umzug über eine allfällige Anpassung der elterlichen Sorge, der Obhut, des persönlichen Verkehrs und des Unterhaltsbeitrages verständigen und im Streitfall das Gericht oder die Kindesschutzbehörde anrufen können. Die Anpassung der Kinderbelangen an die veränderten Verhältnisse nach Art. 134 Abs. 2 ZGB bzw. Art. 298d ZGB ist unter den für die Zustimmung erforderlichen Veränderungen i.d.R. auch durchaus möglich.
B. Wer kann was entscheiden?
Das Sorgerecht beinhaltet wie im alten Recht das Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen zum Lebensverlauf des Kindes. In der Praxis betreffen diese meist den Eintritt in den Kindergarten, Übertrittsentscheide in der Schule, die religiöse Erziehung, die Berufswahl, oder medizinische Eingriffe. Aus dem Sorgerecht ergibt sich jedoch wie bisher kein Mitspracherecht bei alltäglichen (bzw. allen nicht wichtigen) oder dringenden Entscheidungen.
Diese Entscheidungen trifft gemäss Art. 301 Abs. 1bis ZGB derjenige Elternteil, welcher das Kind betreut. Neben dem Sorgerecht und den Unterhaltsansprüchen ist somit zu regeln, in welchem Ausmass die Kindesbetreuung jedem Elternteil zukommt. Anders als bei dem Sorgerecht, dessen Inhalt gesetzlich festgehalten ist, kann die konkrete Ausgestaltung der Betreuungsanteile im Einzelfall (im Rahmen des Kindeswohls) entsprechend der konkreten Situation ausgestaltet werden. Dabei kann die Kinderbetreuung so aufgeteilt werden, dass einem Elternteil die alleinige Obhut (zuweilen auch als „hauptsächliche Obhut“ bezeichnet) und dem anderen Elternteil korrespondierend lediglich ein angemessenes Besuchsrecht (auch „Recht auf persönlichen Verkehr“ genannt) zugestanden wird. Es kann aber auch die alternierende Obhut beider Eltern verfügt werden. In diesem Fall übernimmt jeder Elternteil einen (über das Besuchsrecht hinausgehenden) Anteil an der Betreuung des Kindes, die konkreten Betreuungsanteile müssen festgelegt werden. Die scharfe Abgrenzung zwischen dem Besuchsrecht und einem darüber hinausgehenden Betreuungsanteil ist zurzeit noch ungeklärt. Diese Abgrenzung erlangt insbesondere dadurch Bedeutung, dass die alltäglichen und dringlichen Entscheidungen nur dem betreuenden Elternteil zustehen, nicht aber dem Besuchsrechtselternteil (Art. 301 Abs. 1bis ZGB e contrario). Hier zeigt sich, dass die Alleinentscheidungsbefugnisse des Besuchsrechtselternteils noch höchst unklar sind.
II. ÜBERGANGSRECHT
Für Eltern, welche bei Inkrafttreten der Rechtsänderung am 1. Juli 2014 nicht über die elterliche Sorge verfügen, gibt es die Möglichkeit, diese mit einem erleichterten Antrag zu beantragen. Dabei ist zu unterscheiden, ob der andere, sorgeberechtigte Elternteil dem Antrag zustimmt, oder ob ein Streitfall vorliegt. Reichen die Eltern einen gemeinsamen Antrag (wie er in Art. 298a ZGB beschrieben wird) ein, ist für die Zuteilung des gemeinsamen Sorgerechts die KESB am Wohnsitz des Kindes zuständig (Art. 134 Abs. 3 i.V.m. 298a Abs. 4 ZGB, mit Ausnahme des Antrags an das Zivilstandsamt im Zuge der Vaterschaftsanerkennung). Der alleinige Antrag eines Elternteils gegen den Willen des anderen ist von weiteren Voraussetzungen abhängig.
Wurde dem nicht sorgeberechtigten Elternteil die gemeinsame Sorge in einer Scheidung entzogen, kann er diesen Antrag nur alleine, d.h. ohne Zustimmung des sorgeberechtigten Elternteils stellen, wenn die Scheidung ab Inkrafttreten der Änderung weniger als fünf Jahre zurückliegt (1. Juli 2009), und auch dann nur innert eines Jahres ab Inkrafttreten des neuen Rechts am 1. Juli 2014. Erfolgt die Scheidung nach dem 1. Juli 2014, entfällt die Möglichkeit dieses erleichterten Antrags; es muss für eine Abänderung des Scheidungsurteils eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse eingetreten sein (Art. 134 Abs. 1 ZGB).Für die Neuregelung der elterlichen Sorge ist im Streitfall das für die Abänderung des Scheidungsurteils zuständige Gericht anzurufen (Art. 134 Abs. 3 ZGB). Bei unverheirateten Eltern kann der Antrag gegen den Willen des anderen Elternteils ohne weiteres gestellt werden für Kinder, welche ab dem 1. Juli 2014 geboren wurden. Für vorher geborene Kinder ist der Antrag nur innert eines Jahres ab Inkrafttreten des neuen Rechts möglich. Zuständig für diesen Antrag ist die Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes (Art 298b Abs. 1 ZGB).
In allen Fällen, in welchen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) zuständig ist, muss jedoch nochmals auf das Manko hingewiesen werden, dass die KESB nicht die Kompetenz hat, eine Klage auf Unterhalt zu entscheiden.
IV. FAZIT
In Zukunft wird bei unverheirateten oder geschiedenen Eltern regelmässig die gemeinsame elterliche Sorge verfügt werden. Das Sorgerecht beinhaltet neuerdings und zusätzlich zu dem bisherigen Mitspracherecht bei lebensprägenden Entscheidungen, welche das gemeinsame Kind betreffen, auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Dabei ist zu beachten, dass der Umzug des betreuenden Elternteils nicht von einer Veto-ähnlichen Zustimmung des anderen Elternteils oder einer Behörde abhängig gemacht werden kann (auch wenn Art. 301a ZGB dies suggeriert).
Für Eltern, die zurzeit nicht sorgeberechtig sind, hat das neue Sorgerecht gewisse Möglichkeiten vorgesehen, das Sorgerecht erleichtert, d.h. ohne eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse geltend machen zu müssen, beantragen zu können.
Das neue Sorgerecht behebt zweifellos gleich mehrere Diskriminierungen des alten Rechts. Bedauerlich ist die fehlende Kompetenz der KESB, über Unterhaltsansprüche zu entscheiden, was voraussichtlich kostspielige und andauernde Parallelprozesse erfordern wird. Unklare Rechtsbegriffe und Abgrenzungen wie jene des persönlichen Verkehrs von der Betreuung und deren Rechtsfolgen werden von der Gerichtspraxis zu klären sein.
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22. Juli 2014 / lic. iur. Judith Rhein
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