DIE KINDESANHÖRUNG IN EHERECHTLICHEN VERFAHREN
lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin
Bei einer Trennung oder Scheidung der Ehe befinden sich die Eltern in einer Ausnahmesituation. Es gilt nach dem Scheitern der Paarbeziehung die rechtlichen Folgen zu regeln, sich persönlich und emotional mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen sowie sich auf den neuen Lebensabschnitt einzustellen. Dabei nicht vergessen gehen dürfen die von der neuen Situation betroffenen Kinder, deren aktuelle Befindlichkeit sowie deren Wünsche und Ängste im Zusammenhang mit der Neuorganisation des familiären Lebens als oberste Priorität zu gewichten sind. Die gerichtliche Kindesanhörung im Rahmen von eherechtlichen Verfahren stellt bezüglich der zu regelnden Kinderbelange (unter Ausnahme der Unterhaltsfrage) das Kindeswohl ins Zentrum des Geschehens und verfolgt dabei einen doppelten Zweck. Sie ist einerseits Ausdruck des Respekts vor dem Kind und dessen eigener Persönlichkeit, dem die Möglichkeit gegeben werden soll, seine Meinung zu äussern und zu erzählen, was es beschäftigt, was ihm am meisten Sorgen macht und was es sich in der aktuellen Situation und für die Zukunft wünscht. Andererseits verschafft sie dem Gericht bei der Beurteilung der Situation des Kindes innerhalb der Familie sowie im Hinblick auf die im Rahmen einer Trennung oder Scheidung zu regelnden Kinderbelange wichtige Grundlagen.
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I. AUSGANGSLAGE
Das Recht des Kindes auf Anhörung ergibt sich aus Art. 12 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (Kinderrechtskonvention), die für die Schweiz am 26. März 1997 in Kraft getreten ist und für alle Kinder und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Altersjahr gilt. Darin wird festgehalten, dass ein Kind das Recht hat, seine Meinung in allen es direkt betreffenden Angelegenheiten frei zu äussern. Diese Meinung soll von den Erwachsenen angehört und bei Entscheidungen, dem Alter und der Reife des Kindes entsprechend, angemessen berücksichtigt werden. Die oberste Maxime stellt dabei gemäss Art. 3 der Kinderrechtskonvention das Wohl des Kindes dar. Im schweizerischen Recht findet sich das Anhörungsrecht des Kindes explizit beispielsweise in Art. 298 ZPO für die Kinderbelange in eherechtlichen Verfahren und in Art. 314a ZGB für Kindesschutzverfahren verankert.
Die Kindesanhörung bildet im Grundsatz einen festen Bestandteil jeder behördlichen Entscheidung, die die Interessen eines Kindes massgeblich betrifft. Sie ist in Eheschutzverfahren, im Rahmen einer formellen Trennung vor Gericht oder einer Scheidung der Eltern, aber auch in allen weiteren Verfahren vor Gericht oder vor der Kindes– und Erwachsenenschutzbehörde vorgesehen, in denen für Verheiratete, unverheiratete oder geschiedene Eltern und ihre Kinder die elterliche Sorge, die Obhut und das persönliche Kontaktrecht geregelt wird. Das Kind ist auch dann berechtigt angehört zu werden, wenn familienintern bereits eine gute Lösung gefunden werden konnte, die es nun rechtlich zu regeln oder gerichtlich zu genehmigen gilt. Neben den eherechtlichen Verfahren und den Verfahren vor Familiengericht kann sich im Bereich von Kindesschutzverfahren, bei Verwaltungsverfahren (Einbürgerung, Namensänderung, Adoption und Asyl), im Bereich von Kindergarten und Schule (Versetzungen, disziplinarische Massnahmen etc.) sowie im Gesundheitsbereich bei wichtigen, medizinischen Entscheidungen die Notwendigkeit einer Kindesanhörung ergeben.
In familienrechtlichen Verfahren stellt die Kindesanhörung den Grundsatz dar, ein Verzicht auf eine solche bleibt die Ausnahme. Ausnahmefälle für das Absehen von einer Kindesanhörung können bspw. sein, dass eine Anhörung des Kindes für dieses eine zu erhebliche, persönliche Belastung bedeutet oder aber, dass ein Kind seine Beziehung zu einem Elternteil gar nicht beurteilen kann, weil es zu diesem bislang keinen Kontakt hatte (BGE 124 III 90). Das Gericht entscheidet im konkreten Fall, ob eine Kindesanhörung stattfinden soll, wobei die Teilnahme an einer solchen dem Kind freigestellt wird. Das Bundesgericht vertritt in BGE 131 III 553 den Grundsatz, dass eine Anhörung aufgrund der Reife eines Kindes grundsätzlich erst ab dessen 6. Altersjahr möglich ist. Dieser Grundsatz wird in der Rechtsprechung dahingehend begründet, dass jüngere Kinder die Bedeutung des elterlichen Konflikts für sie selber noch nicht richtig erfassen können, weshalb für sie die Belastung durch eine gerichtliche Anhörung grösser ist, als der Nutzen daraus. Erscheint es dem Gericht in umstrittenen Fällen für eine angemessene Regelung der Beziehung des Kindes zu den Eltern wichtig, auch die Bedürfnisse eines jüngeren Kindes abzuklären, werden für die Anhörung des Kindes und die Bewertung seiner Äusserungen im Rahmen derselben externe Experten beigezogen (BGE 127 III 295).
II. DIE ANHÖRUNG DES KINDES
Das Kind wird üblicherweise vom Gericht mit einem persönlichen Brief zur Anhörung eingeladen, wobei ihm altersentsprechend mitgeteilt wird, in welcher Angelegenheit das Gericht mit ihm das Gespräch sucht und dass es frei entscheiden darf, ob es den Anhörungstermin wahrnehmen möchte oder nicht. Selbstverständlich dürfen gerichtliche Terminvorschläge abgeändert werden, wenn sie zeitlich nicht passen oder aber das Kind darf dem Gericht mitteilen, dass es keine Anhörung wünscht. Die Kindesanhörung dauert, je nach Alter und Persönlichkeit des Kindes, der zu besprechenden Thematik und dem Verlauf des Gespräches, zwischen einer halben und einer Stunde und findet am Gericht, jedoch in einem kindgerechten Anhörungsraum, statt. Anwesend sind neben dem Kind die anhörende Fachperson (Richter/in oder Fachrichter/in) sowie allenfalls eine zweite Person, die das Protokoll führt. Das Kind wird ohne Anwesenheit der Eltern im Raum angehört. An der Anhörung wird das Kind ausführlich über den Ablauf der Anhörung, den Grund für dieselbe und die zur Diskussion stehenden Angelegenheiten sowie das weitere Vorgehen informiert. Es wird ihm altersentsprechend erklärt, was von den Erwachsenen (Eltern, Gericht, weitere involvierte Personen/Fachpersonen) im konkreten Fall bereits geplant oder entschieden worden ist und es werden im Gespräch Fragen nach der persönlichen Meinung des Kindes gestellt. Die Fragen betreffen insbesondere die aktuelle Befindlichkeit des Kindes, wie es ihm zu Hause geht, wie es in der Schule läuft, wie es seine Freizeit gestaltet, ob es Freunde und Vertrauenspersonen hat, was das Kind gerne mit der Mutter und dem Vater unternimmt, was das Kind für Ideen hätte, wie man die Familiensituation für es leichter machen könnte, was es sich wünscht und was es allenfalls bedrückt, etc. Selbstverständlich darf das Kind an der Anhörung auch konkrete Anregungen, Vorschläge und Änderungswünsche in Bezug auf seine Situation machen und Fragen stellen, wenn es etwas nicht versteht, oder wenn es zu einem Themenbereich weitere Informationen haben möchte. Die Anhörung des Kindes bleibt grundsätzlich vertraulich. Am Schluss der Anhörung werden mit dem Kind die Inhalte des erstellten Protokolls noch einmal durchgegangen um sicherzustellen, dass die Aussagen des Kindes richtig verstanden wurden. Es steht dem Kind frei, Äusserungen, die es im Protokoll nicht angemerkt haben möchte, streichen zu lassen. In familienrechtlichen Verfahren wird den Eltern nach der Kindesanhörung die protokollierte Zusammenfassung des Gesprächs zugestellt oder der Inhalt desselben mündlich erläutert. Von grosser Wichtigkeit ist, dass sich das Kind und auch die Eltern über den Zweck und die Grenzen der Kindesanhörung im Klaren sind. Diese werden dem Kind anlässlich der Anhörung erläutert und aufgezeigt. Im Sinne des Kindeswohles soll das Kind keine grundsätzlichen Entscheidungen in den zu regelnden Themenbereichen treffen müssen oder eine Verantwortung aufgebürdet bekommen, die es überfordert. Das Kind soll darauf vertrauen können, seine Meinung frei äussern zu dürfen und ernst genommen zu werden. Dabei soll es wissen, dass die Entscheidlast von den involvierten, erwachsenen Personen getragen wird. Eine gerichtliche Anhörung stellt für die meisten Kinder eine neue Erfahrung dar, die sie jedoch üblicherweise nicht als belastend empfinden. Insbesondere in schwierigen, konfliktgeladenen familiären Situationen kann die Anhörung des Kindes für dieses zu einer Entlastung beitragen, da das Kind im Rahmen derselben Informationen und Erklärungen erhält und sich damit auf anstehende Veränderungen besser einstellen kann oder bereits erfolgte Veränderungen besser verstehen kann. Kinder möchten bei familiären Veränderungen informiert und einbezogen werden und es stärkt sie nachweislich, wenn ihre eigenen Ideen, Wünsche oder Ängste gehört werden und in die Entscheidfindung einfliessen können.
III. DIE ROLLE DER ELTERN BEI DER KINDESANHÖRUNG
In jeder familienrechtlichen Ausnahmesituation ist es für das Kindeswohl von grosser Wichtigkeit, dass Eltern und Kinder, nach Möglichkeit miteinander, über die anstehenden Veränderungen offen und altersgerecht sprechen. So wird dem Kind ermöglicht, sich im Rahmen der familiären Veränderung zu orientieren und seinen eigenen Standpunkt zu finden. Im Hinblick auf die Kindesanhörung ist das Kind auf die wohlwollende Unterstützung beider Elternteile angewiesen, wobei die Eltern ihrem Kind erklären können, dass seine eigene Meinung wichtig ist und gehört werden will, eine Entscheidung aber letztlich von den Erwachsenen getroffen wird und diese für die Entscheidung auch die Verantwortung übernehmen. Die Entscheidung für oder gegen eine Kindesanhörung ist, nach erfolgter Einladung durch das Gericht, jedoch dem Kind selber zu überlassen, wobei es hilfreich ist, mit dem Kind zusammen die ihm vom Gericht zugestellte Einladung zur Anhörung mit den dazu gehörigen Beilagen gemeinsam durchzugehen. Eltern, die Bedenken oder Vorbehalte gegenüber der angesetzten Kindesanhörung haben, können sich mit ihren Fragen oder Befürchtungen an die Fachperson beim Gericht wenden.
Die Aussagen des Kindes bei der Anhörung sind seine höchst persönliche Angelegenheit. Es darf äussern, was es möchte und für sich behalten, was es nicht sagen will. Dabei darf das Kind genau so reden, «wie ihm der Schnabel gewachsen ist», – es gibt kein Richtig und kein Falsch. Das Kind darf und soll von den Eltern keinesfalls als Sprachrohr für ihre eigenen Ansprüche oder Befindlichkeiten instrumentalisiert werden, ansonsten der Sinn und Zweck der Kindesanhörung, d.h. die freie Meinungsäusserung sowie die Inanspruchnahme des Informationsrechts durch das Kind, zunichte gemacht wird. Eine Beeinflussung des Kindes durch den einen gegen den anderen Elternteil, eine Vorinstruktion des Kindes oder die Äusserung einer Erwartungshaltung an das Kind durch einen oder beide Elternteile widerspricht überdies dem Kindeswohl diametral. Durch ein solches Verhalten, wird der, einer Trennungs- oder Scheidungssituation für das Kind immanente, Loyalitätskonflikt gegenüber seinen Eltern unnötig und über Gebühr verstärkt.
IV. DER EINFLUSS DES KINDESANHÖRUNG AUF DEN GERICHTLICHEN ENTSCHEID
Der Inhalt der Kindesanhörung wird im Rahmen der jeweiligen gerichtlichen Entscheidung möglichst umfassend berücksichtigt. Wie weit die Möglichkeiten des Kindes zur Mitwirkung im Rahmen der gerichtlichen Entscheidfindung Einlass finden, steht jedoch im Ermessen des Gerichts und ist abhängig von der Natur der zu beurteilenden Angelegenheit aber auch vom Alter des Kindes und von seinen Bedürfnissen. Ein Erwachsenenkonflikt muss von Erwachsenen gelöst werden und das Gericht ist im Rahmen der in Kinderbelangen geltenden Offizialmaxime gehalten, unter Mitwirkung aller beteiligten Parteien die bestmögliche Lösung im Sinne des Kindeswohles zu finden.
3. Juni 2020 / lic. iur. Melanie Schmidt
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