HAFTUNG UND HAFTUNGSAUSSCHLUSS BEI FEHLENDER STRASSENSIGNALISATION
lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin, und MLaw Matthias Meier
Schilder, Signale und Ampeln, wohin das Auge reicht: Manch ein Strassenbenützer fühlt sich heute durch den „Schilderwald“ im Strassenverkehr eher verwirrt als orientiert. Bei manch einem Automobilisten dürfte auch der Verdacht aufkommen, dass Verkehrssignale nur platziert werden, damit die Polizei bei deren Missachtung eine Busse aussprechen kann. Interessant ist hingegen auch die gegenteilige Konstellation: Fehlt ein Signal oder eine Markierung, können auf den betreffenden Eigentümer der Strasse – in der Regel die Gemeinde, den Kanton oder die Eidgenossenschaft – unter Umständen Haftungsansprüche zukommen: Das Bundesgericht hat kürzlich in einem Entscheid bestätigt, dass die fehlende Signalisation von Gefahren einen Werkmangel darstellen kann, wodurch den Eigentümer eine Werkeigentümerhaftung treffen kann.
I. DER BUNDESGERICHTSENTSCHEID
Dem Entscheid des Bundesgerichts (Urteil 4A_479/2015 vom 2. Februar 2016) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Eine Motorradfahrerin verunfallte bei Regen auf der Autobahn in einer Linkskurve im Bereich einer Baustelle und erlitt beim Sturz leichte Verletzungen. Die Fahrbahn war im Bereich des Unfalls sehr rutschig. Die Baustelle war zwar mit dem Signal «Baustelle» gekennzeichnet; allerdings fehlte das Signal «Schleudergefahr».
Die Motorradfahrerin klagte vor Kantonsgericht Luzern gegen die (Werk-)Eigentümerin der Strasse (Eidgenossenschaft) und bekam recht. Das Bundesgericht wies die Beschwerde der Eidgenossenschaft gegen diesen Entscheid ab.
Das Bundesgericht hob zwar hervor, dass es in erster Linie Sache der einzelnen Verkehrsteilnehmer sei, die Strasse mit Vorsicht zu benützen und ihr Verhalten den Strassenverhältnissen anzupassen. Ein Strassenverkehrsteilnehmer dürfe jedoch grundsätzlich von einer guten und sicheren Strasse ausgehen. Ein Hindernis, das bei zumutbarer Aufmerksamkeit nicht rechtzeitig erkannt werden kann und mit dem nach den Umständen nicht gerechnet werden muss, muss hinreichend signalisiert werden, sofern es nicht mit zumutbarem Aufwand beseitigt werden kann. Das Fehlen einer Signalisation von Gefahren kann daher einen Werkmangel darstellen, wodurch eine Haftung des Werkeigentümers gemäss Artikel 58 OR in Frage kommt. Mit einer derart rutschigen Fahrbahn habe die Motorradfahrerin nicht rechnen müssen und können. Zusätzlich zum Signal «Baustelle» hätte daher auch das Signal «Schleudergefahr» aufgestellt werden müssen.
II. WERKEIGENTÜMERHAFTUNG
Gemäss Artikel 58 OR hat der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhaftem Unterhalt verursachen. Als Werke gelten stabile, durch Menschenhand künstlich hergestellte oder angeordnete, bauliche oder technische Anlagen, die mit dem Erdboden, sei es direkt oder indirekt, dauerhaft verbunden sind. Unter den Werkbegriff fallen neben Gebäuden auch Strassen sowie blosse Werkteile wie beispielsweise Treppen, Aufzüge, Leitungen, Mauern, Abschrankungen, Schutzbauten oder auch künstlich geschaffene Skipisten. Ein Werk ist mangelhaft, wenn es nicht die erforderliche Sicherheit bietet. Als Ursachen kommen insbesondere der mangelhafte Unterhalt (wenn sich z.B. ein Ziegel vom Dach eines alten Hauses löst) bzw. die fehlerhafte Anlage oder Herstellung (z.B. eine fehlende Verbotstafel bei gefährlicher Wassertiefe für jugendliche Badegäste) in Betracht.
Der Eigentümer eines Werkes haftet für alle Schäden, die das mangelhafte Werk verursacht. Die Verpflichtung des Eigentümers, ein mängelfreies Werk zu errichten und zu unterhalten, wird umso strenger beurteilt, je grössere Risiken das Werk mit sich bringt und je kostengünstiger Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden können. Obwohl nicht jede Gefahrenquelle einen Werkmangel darstellt, der Eigentümer nur normale Risiken vermeiden, d.h. nicht jedem entfernt vorstellbaren Schaden vorbeugen muss, kann sich der Werkeigentümer grundsätzlich nicht mit dem Nachweis von der Haftung befreien, dass er die nötige Sorgfalt im Zusammenhang mit der Erstellung und dem Unterhalt des Werkes aufgewendet hat. Der Werkeigentümer haftet kraft seiner Eigentümerstellung kausal – also auch ohne Verschulden – für alle Schäden, die sein Werk verursacht.
Der Werkeigentümer kann sich auch nicht mit dem Hinweis von der Haftung befreien, dass er auf die Gefahr des Werkes hingewiesen habe. Das blosse Aufhängen oder Aufstellen von Warn- bzw. Verbotsschildern (“Zutritt verboten – Jede Haftung wird abgelehnt“ und dergleichen) genügt im Normalfall nicht, um die Haftung wegzubedingen.
Es kann höchstens als Umstand gelten, den das Gericht bei der Schadenersatzbemessung wertet.
III. DER STRASSENUNTERHALT IM BESONDEREN
Die oben beschriebenen Grundsätze der Werkeigentümerhaftung gelten grundsätzlich auch für öffentliche Strassen.
Strassen müssen – wie alle anderen Werke privater Eigentümer – so angelegt und unterhalten sein, dass sie den Benutzern hinreichende Sicherheit bieten. Im Vergleich zu anderen Werken stellt die Rechtsprechungbezüglich Anlage und Unterhalt von Strassen aber nicht allzu strenge Anforderungen. Dies insbesondere deshalb, weil das Strassennetz nicht in gleichem Mass unterhalten werden kann wie zum Beispiel ein einzelnes Gebäude. Dabei sind die Grundsätze der Rechtsprechung nicht nur auf eigentliche Strassen, sondern auch auf Plätze, Radfahrer- und Fussgängerwege, Promenaden, Reitwege, Durchgänge, Verbindungsbrücken oder Passagen anwendbar.
Es kann vom Strasseneigentümer, bei dem es sich meistens um das Gemeinwesen handelt, nicht erwartet werden, dass er jede Strasse so ausgestaltet, dass sie den grösstmöglichen Grad an Verkehrssicherheit bietet. Vom Benützer einer Strasse wird erwartet, dass er die durch die Umstände gebotene Aufmerksamkeit walten lässt.
Namentlich bei witterungsmässig schlechten Strassenverhältnissen ist Vorsicht geboten. Auf der anderen Seite ist bei selbst geschaffenen Gefahrenquellen (z.B. eine Baustelle) in der Regel mit einer entsprechenden Signalisation auf daraus entspringende Gefahren (z.B. rutschige Fahrbahn) hinzuweisen.
Es genügt somit, dass der Verkehrsteilnehmer die Strasse bei Anwendung gewöhnlicher Sorgfalt ohne Gefahr benützen kann, er also über sämtliche Gefahren informiert ist. Sodann muss in jedem einzelnen Fall geprüftwerden, ob der Strasseneigentümer – in der Regel der Staat – nach den zeitlichen, technischen und finanziellenGegebenheiten in der Lage war, seine Aufgabe zu erfüllen. Die Frage der Zumutbarkeit von Sicherheitsvorkehren
wird zudem unterschiedlich beurteilt, je nachdem, ob es sich um eine Autobahn, eine verkehrsreiche Hauptstrasse oder einen Feldweg handelt. Es muss also im Winter nicht bei jeder Nebenstrasse auf das mögliche Auftreten von Glatteis hingewiesen werden.
Auf der anderen Seite ist die Verantwortung des Eigentümers gerade bei Glatteisgefahr und starkem Publikumsverkehr hervorgehoben. In solchen Fällen muss er um die wirksame Gefahrenbeseitigung (Streuen, Auslegen eines Teppichs etc.) oder das Aufstellen eines Warnschildes besorgt sein. Die Rechtsprechung stellt hierbei an den Privateigentümer höheren Anforderungen bezüglich Unterhalt als an ein Gemeinwesen, weil dieses ein ganzes Strassennetz zu unterhalten hat.
IV. FAZIT
Der Werkeigentümer haftet kausal – also auch ohne Verschulden – für alle Schäden, die sein Werk verursacht. Er kann sich auch nicht von der Haftung befreien, indem er schlicht auf die Gefahr des Werkes hinweist. Vielmehr hat er alles Notwendige vorzunehmen, um einen Schadenseintritt zu verhindern. Im Vergleich zu anderen Werken stellt die Rechtsprechung bezüglich Anlage und Unterhalt von Strassen aber diesbezüglich nicht allzu strenge Anforderungen.
Gerade bei Glatteisgefahr und starkem Publikumsverkehr gelten jedoch höhere Anforderungen bezüglich Aufstellen von Warnschildern und Unterhalt von Strassen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Privateigentümer einer Strasse höhere Anforderungen treffen. Ihnen ist deshalb zu empfehlen, auf den Unterhalt von Gebäuden und anderen Werken zu achten und gegebenenfalls mit Warnschildern auf Gefahren hinzuweisen.
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2. Juni 2016 / lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin, und MLaw Matthias Meier