LOHNFORTZAHLUNG BEI KRANKHEIT – RECHTLICHE MÖGLICHKEITEN FÜR ARBEITGEBER

MLaw Kim Wysshaar, Rechtsanwältin

Verhinderungen von Arbeitnehmern, gleich welcher Art, führen regelmässig zu Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Der häufigste Grund für eine Verhinderung des Arbeitnehmers an seiner Arbeitsleistung stellt jedoch weiterhin die Krankheit dar. Der vorliegende Artikel soll aufzeigen, welche Möglichkeiten für den Arbeitgeber bestehen, um seiner Lohnfortzahlungspflicht nach Art. 324a Abs. 1 OR bei Krankheit nachzukommen und welche Besonderheiten es beim Abschluss einer Krankentaggeldversicherung zu beachten gilt.

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I. LOHNFORTZAHLUNGSPFLICHT BEI VERHINDERUNG DES ARBEITNEHMERS

Wird der Arbeitnehmer aus Gründen, die in seiner Person liegen, wie Krankheit, Unfall, Erfüllung gesetzlicher Pflichten oder Ausübung eines öffentlichen Amtes, ohne sein Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert, so muss ihm der Arbeitgeber nach Art. 324a Abs. 1 OR in der Regel für eine beschränkte Zeit den darauf fallenden Lohn entrichten. Die Norm ist relativ zwingend. Verbesserungen zugunsten des Arbeitnehmers sind damit jederzeit und formlos gültig. Zuungusten des Arbeitnehmers darf hingegen nur durch schriftliche Abrede, Normalarbeitsvertag oder Gesamtarbeitsvertrag abgewichen werden. 

Die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers bedingt, dass das Arbeitsverhältnis mehr als drei Monate gedauert hat oder für mehr als drei Monate eingegangen worden ist. Bei einem unbefristeten Vertrag mit Probezeit oder mit anderer Kündigungsmöglichkeit auf einen Termin, der vor Ablauf der drei Monate liegt, beginnt die Lohnfortzahlungspflicht am ersten Tag des 4. Anstellungsmonats. Der Arbeitgeber kann auf die Karenzfrist aber auch verzichten und die Lohnfortzahlungspflicht mit dem ersten Arbeitstag beginnen lassen.

Der «darauf entfallende» Lohn (Abs. 1) umfasst nicht bloss den Lohn im engeren Sinn, sondern auch eine Entschädigung für den Naturallohn, soweit dieser nicht weiterhin in natura gewährt werden kann, ferner regelmässig wiederkehrende Zulagen wie Teuerungs-, Nacht-, Sonntags-, Schicht- und Sozialzulagen (insbes. Familien-/Kinderzulagen).

Was eine «beschränkte Zeit» im Sinne von Art. 324a Abs. 1 OR ist, bestimmt sich nach Art. 324a Abs. 2 OR. Sind durch schriftliche Abrede, Normalarbeitsvertrag oder Gesamtarbeitsvertrag nicht längere Zeitabschnitte bestimmt, so hat der Arbeitgeber im ersten Dienstjahr den Lohn für drei Wochen und danach für eine angemessene längere Zeit zu entrichten (Art. 324a Abs. 2 OR). Zur Beantwortung der Frage, was eine «angemessene längere Zeit» darstellt, wurden von der Rechtsprechung und Literatur Skalen erarbeitet, welche als Regelfall gelten sollen:

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  Berner Skala Basler Skala Zürcher Skala
Dienstjahr 3 Wochen 3 Wochen 3 Wochen
Dienstjahr 1 Monat 2 Monate 8 Wochen
Dienstjahr 2 Monate 2 Monate 9 Wochen
Dienstjahr 2 Monate 3 Monate 10 Wochen
Dienstjahr 3 Monate 3 Monate 11 Wochen
Dienstjahr 3 Monate 3 Monate 12 Wochen
Dienstjahr 3 Monate 3 Monate 13 Wochen
Dienstjahr 3 Monate 3 Monate 14 Wochen
Dienstjahr 3 Monate 3 Monate 15 Wochen
Dienstjahr 4 Monate 3 Monate 16 Wochen
Dienstjahr 4 Monate 4 Monate 17 Wochen

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Diese Skalen dürfen jedoch nicht schematisch angewandt werden, da von Gesetzes wegen die Umstände des Einzelfalls, wie insbesondere die Häufigkeit früherer Krankheiten und Ausfälle sowie die besonderen Verdienste des Arbeitnehmers für die Dauer der Lohnfortzahlung gemäss Art. 324a Abs. 2 OR stets zu berücksichtigen sind.

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II. VERSICHERUNGSLÖSUNG NACH ART. 324A ABS. 4 OR

Art. 324a Abs. 4 OR bietet Arbeitgebern die Möglichkeit, eine abweichende Ordnung der Lohnfortzahlung bei unverschuldeter Verhinderung des Arbeitnehmers zu vereinbaren, sofern sie für den Arbeitnehmer mindestens gleichwertig ist. Vorgeschrieben ist dafür die Schriftform, sofern die Regelung nicht in einem Gesamt- oder Normalarbeitsvertrag getroffen wird. Zur Erfüllung des Schriftformerfordernisses müssen gemäss Bundesgericht insbesondere folgende Punkte vom Arbeitgeber genannt werden:

  • Die von der Versicherung abgedeckten Risiken; 
  • der Prozentsatz des versicherten Lohnes; 
  • die Dauer der Leistungen; 
  • die Modalitäten der Prämienfinanzierung. 

Dabei können die Grundzüge der abweichenden Regelung im vorstehenden Sinne auch in einem vom Arbeitsvertrag getrennten Reglement oder in den abgegebenen Versicherungsbedingungen, auf die im Arbeitsvertrag verwiesen wird, enthalten sein. Das unterzeichnete Schriftstück muss aber einen klaren Hinweis auf eine abweichende Regelung der Lohnfortzahlung enthalten und dem Arbeitnehmer abgegeben werden. Nichteinhaltung der Formvorschrift lässt die gesetzliche Regelung bestehen und führt dazu, dass der Arbeitgeber trotz bestehender Versicherung den vollen Lohn für die beschränkte Zeit gemäss Art. 324a Abs. 2 OR zu erbringen hat.

Was als gleichwertig im Sinne von Art. 324a Abs. 4 OR gilt, ist in der Praxis weiterhin nicht unumstritten. In der Regel gilt eine Versicherungslösung aber zumindest dann als gleichwertig, wenn maximal für drei Tage (Karenzfrist) keine Lohnfortzahlung erfolgt und die Leistungen der Versicherung mindestens 80% des bisherigen Lohnes abdecken und während 720 Tagen innerhalb 900 Tagen entrichtet werden. Zudem müssen die Prämien für die Versicherung zu mindestens 50% vom Arbeitgeber getragen werden.

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III. ARTEN VON KRANKENTAGGELDVERSICHERUNGEN

Es gibt zwei Arten von Krankentaggeldversicherungen zu unterscheiden: Die (eher seltene) soziale Taggeldversicherung, welche grundsätzlich dem öffentlich-rechtlichen Krankenversicherungsgesetz (KVG) untersteht, und die privatrechtliche Taggeldversicherung nach dem Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Bei der Gestaltung der Taggeldversicherung nach VVG existieren innerhalb des Rahmens der wenigen zwingenden Normen des VVG grosse Freiräume. Im Gegensatz dazu gelten bei Taggeldversicherungsverträgen nach KVG zahlreiche zwingende öffentlich-rechtliche Bestimmungen.

Zudem findet eine weitere Unterscheidung nach dem Kreis der Versicherten statt. Es wird differenziert zwischen Einzelversicherungen und Kollektivversicherungen. Bei Einzelversicherungen schliesst der Versicherungsnehmer eine Versicherung für sich selbst ab. Bei Kollektivversicherungen schliesst hingegen der Versicherungsnehmer für einen Dritten (Anspruchsberechtigter) einen Versicherungsvertrag ab. Arbeitgeber schliessen in der Regel für ihre Arbeitnehmer eine Kollektivtaggeldversicherung ab.

In rechtlicher Hinsicht handelt es sich bei der Kollektivtaggeldversicherung um einen Vertrag zugunsten Dritter (Arbeitnehmer). Dabei räumt Art. 87 VVG bzw. die Rechtsprechung zum KVG den Arbeitnehmern ein selbständiges Forderungsrecht gegenüber dem Versicherer ein. Der Versicherte (Arbeitnehmer) ist also Gläubiger des Versicherers, ohne selbst Vertragspartei zu sein und hat einen eigenen gesetzlich geschützten Anspruch gegenüber der Versicherung. 

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IV. HAFTUNG UND INFORMATIONSPFLICHT DES ARBEITGEBERS

Der Arbeitgeber ist dafür verantwortlich, dass der Krankentaggeldversicherungsvertrag korrekt abgeschlossen wurde und während des Arbeitsverhältnisses in Kraft bleibt. Wenn der Arbeitgeber sich im Arbeitsvertrag zum Abschluss einer Kollektiv-Krankentaggeldversicherung verpflichtet hat bzw., wenn er gemäss GAV dazu verpflichtet ist, und er seiner Pflicht nicht nachkommt, kann der Arbeitnehmer, vom Arbeitgeber insbesondere Schadenersatz in der Höhe des entgangenen Taggelds verlangen.

Der Arbeitgeber haftet zudem dafür, dass er die versicherten Personen genügend über ihre Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsvertrag und über allfällige, nicht offensichtliche Leistungseinschränkungen verständlich aufklärt. Der Arbeitgeber hat zudem alle notwendigen und ihm vom Arbeitnehmer zugetragenen Informationen fristgerecht an die Krankentaggeldversicherung weiterzuleiten. Damit trägt der Arbeitgeber die Verantwortung für die rechtzeitige Information der Versicherung über den jeweiligen Krankheitsfall.

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V. ENDE DES VERSICHERUNGSSCHUTZES

Grundsätzlich endet der Versicherungsschutz mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses. Bei der Kollektivversicherung nach KVG erfolgt nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch bei bestehender Arbeitsunfähigkeit keine Nachleistung aus dem Versicherungsvertrag. Wer als Arbeitsunfähiger nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Versicherungsleistungen weiter beziehen will, muss somit in die Einzelversicherung übertreten. Dabei muss der KVG-Kollektivversicherer die Versicherten über ihr Recht zum Übertritt schriftlich aufklären und der Übertritt muss innerhalb von 3 Monaten nach Erhalt der Mitteilung geltend gemacht werden.

Bei Kollektivkrankentaggeldversicherungen nach VVG fehlt es hingegen an allgemeinen gesetzlichen Regelungen betreffend ein Übertrittsrecht des Arbeitnehmers. In der Regel ist jedoch in den allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) der vorbehaltlose Übertritt für die gleichen versicherten Leistungen geregelt. Die Modalitäten für den Übertritt sind sodann ebenfalls den jeweiligen AVB zu entnehmen. Im Unterschied zu den Kollektivversicherungen nach KVG können die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähigen Arbeitnehmer somit je nach AVB weiterhin Krankentaggelder beziehen. Die Leistungspflicht endet jedoch jeweils mit Erreichung der maximal vereinbarten Leistungsdauer von in der Regel 720 oder 730 Tagen.

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VI. FAZIT

Wie aufgezeigt, gibt es für Arbeitgeber verschiedene Möglichkeiten ihrer Lohnfortzahlungspflicht bei Krankheit des Arbeitnehmers gemäss 324a Abs. 1 OR nachzukommen. Entscheidet der Arbeitgeber sich für eine der genannten Versicherungslösungen nach KVG oder VVG, sind stets die jeweiligen Besonderheiten der gewählten Versicherung zu beachten. Wichtig ist, dass die Arbeitnehmer über die gewählte Versicherungslösung eingehend informiert werden und die Modalitäten auch schriftlich in den einzelnen Arbeitsverträgen oder in einem entsprechenden Reglement festgehalten werden. Dadurch lassen sich auch künftige Streitigkeiten mit den Arbeitnehmern besser vermeiden.


11. Oktober 2021 / MLaw Kim Wysshaar