RECHTSÜBERHOLEN AUF AUTOBAHNEN BEI KOLONNENVERKEHR – PRÄZISIERUNG DER BUNDESGERICHTLICHEN RECHTSPRECHUNG
lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und MLaw Sabrina Engel
Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid (BGE 142 IV 93) vom 3. März 2016 einen Fahrzeuglenker, der bei dichtem Kolonnenverkehr auf der dreispurigen Autobahn A1-Ost von der mittleren Fahrspur (erste Überholspur) auf die rechte Spur (Normalspur) wechselte und im gleichbleibenden Tempo rechts an zwei Fahrzeugen vorbeifuhr, vom Anklagepunkt der Verkehrsregelverletzung freigesprochen. In diesem Entscheid hält das Bundesgericht zwar an seiner als zu streng kritisierten Rechtsprechung zum Verbot des Rechtsüberholens fest, es nimmt aber eine Präzisierung des Begriffs des Kolonnenverkehrs vor, indem es neu bei der Gefahrenbewertung auf das Gesamtverkehrsaufkommen abstellt.
I. DAS VERBOT DES RECHTSÜBERHOLENS
Wer auf der Autobahn rechts überholt, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung und kann mit einer hohen Geldstrafe oder gar einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden. Für die meisten Autofahrer dürfte jedoch der durch das Strassenverkehrsamt zusätzlich angeordnete Führerausweisentzug das grössere Übel sein, zumal die Mindestentzugsdauer bei einer groben Verkehrsregelverletzung drei Monate beträgt.
Unter den Begriff des Rechtsüberholens fällt nicht nur der klassische Fall, wenn ein Fahrzeuglenker von der Überholspur auf die Normalspur ausschert, an einem Auto auf der rechten Seite vorbeifährt und danach wieder auf die Überholspur wechselt. Rechtsüberholen im Sinne der ständigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung liegt bereits dann vor, wenn ein schnelleres Fahrzeug auf der Normalspur ein mit geringerer Geschwindigkeit in gleicher Richtung vorausfahrendes Fahrzeug auf der Überholspur einholt, an diesem vorbeifährt und vor ihm die Fahrt weiterhin auf der Normalspur fortsetzt. Es wird also weder das Ausschwenken noch das Wiedereinbiegen auf die Überholspur für den Tatbestand des Rechtsüberholens vorausgesetzt.
II. AUSNAHME VOM VERBOT DES RECHTSÜBERHOLENS
Das Gesetz sieht jedoch Ausnahmen vom Verbot des Rechtsüberholens vor, d.h. in diesen Verkehrssituationen darf der Fahrzeuglenker rechts an den anderen Fahrzeugen vorbeifahren:
– Beim Fahren auf Einspurstrecken, sofern für die jeweiligen Fahrspuren unterschiedliche Fahrziele signalisiert sind
– Beim Fahren auf den Beschleunigungsstreifen von Einfahrten bis zum Ende der Doppellinien-Markierung
– Beim Fahren auf dem Verzögerungsstreifen von Ausfahrten
– Beim Fahren in parallelen Kolonnen
Das Bundesgericht hat sich im Entscheid (BGE 142 IV 93) vom 3. März 2016 mit letzterer Ausnahme vom Rechtsüberholen, Fahren in parallelen Kolonnen, wegweisend auseinandergesetzt. Es hält zwar auch in diesem Entscheid nach wie vor an seiner Rechtsprechung zur Unterscheidung zwischen dem grundsätzlichen Verbot, rechts zu überholen durch Ausschwenken und/oder Wiedereinbiegen und dem erlaubten Rechtsvorfahren, fest, es präzisiert aber den Begriff des Kolonnenverkehrs auf Autobahnen.
1. Begriff des Kolonnenverkehrs nach jüngster Rechtsprechung
Der Begriff des Kolonnenverkehrs wurde dahingehend konkretisiert, dass paralleler Kolonnenverkehr bereits dann anzunehmen ist, wenn es auf der linken (und allenfalls mittleren) Überholspur zu einer derartigen Verkehrsverdichtung kommt, dass Fahrzeuge auf der Überholspur faktisch nicht mehr schneller vorankommen als diejenigen auf der Normalspur, mithin die gefahrenen Geschwindigkeiten annähernd gleich sind.
Bei der Beurteilung, ob ein paralleler Kolonnenverkehr vorherrscht, ist es irrelevant, ob bzw. dass die Abstände zwischen den Fahrzeugen auf der Normalspur grösser sind als zwischen denen auf der linken (und allenfalls mittleren) Überholspur. Dasselbe gilt bei verkehrsbedingten geringfügigen Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den Fahrzeugen auf der Normalspur und denjenigen auf der Überholspur.
Das Bundesgericht führt in seiner Begründung aus, dass das passive Rechtsvorbeifahren bei dichtem Verkehr mittlerweile eine alltägliche Situation sei, die sich kaum vermeiden liesse und nicht per se zu einer abstrakt erhöhten Gefahrensituation führe. Im Gegensatz zum eigentlichen verbotenen Rechtsüberholen tauche bei einem vorherrschenden Kolonnenverkehr das rechts auf der Normalspur fahrende Auto nicht plötzlich und unvermittelt auf, sondern bewege sich mit konstanter Geschwindigkeit fort. Es bestünde damit keine Gefährdungs- oder Unfallgefahr. Fahrzeuglenker auf der Überholspur können bei erhöhtem Verkehrsaufkommen und Reduzierung der eigenen Geschwindigkeit nicht darauf vertrauen, dass sich die neben ihnen auf der Normalspur fahrenden Autos dem Verkehrsaufkommen auf der Überholspur anpassen und ihrerseits die Geschwindigkeit reduzieren, um einen blinden Spurenwechsel zu ermöglichen.
III. FAZIT
Wer auf der Autobahn auf der Normalspur bei dichtem Kolonnenverkehr auf beiden (allen) Spuren mit einer konstanten Geschwindigkeit an den Fahrzeugen auf der Überholspur rechts vorbeifährt (ohne Ausschwenken und Wiedereinbiegen), begeht keine grobe Verkehrsverletzung und bleibt damit straflos. Fahrzeuglenker auf der Überholspur werden bei einer solchen Verkehrslage also nicht (mehr) in ihrem Vertrauen geschützt, dass sich auf der Normalspur hinter ihnen kein Fahrzeug befindet oder nähert. Hingegen gilt das eigentliche Rechtsüberholen auf der Autobahn nach wie vor als grobe Verkehrsregelverletzung und wird auch entsprechend gebüsst, namentlich der vorsätzliche Wechsel von der Überholspur auf die Normalspur mit dem Zweck des Überholens.
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29. November 2016 / lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und MLaw Sabrina Engel
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